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Belletristik

Das Meer der Libellen

Yvonne Adhiambo Owuor

Der 600 Seiten dicke Roman Das Meer der Libellen der kenianischen Autorin Yvonne Adhiambo Owuor ist nicht allein deshalb eine Empfehlung wert, weil Bücher afrikanischer Autoren auf unserem Buchmarkt nach wie vor selten sind – wirft die kenianische Schriftstellerin doch nicht nur einen eigenwilligen Blick auf ihre Heimat, sondern auch auf die globale Geschichte und Gegenwart. Ebenso bemerkenswert ist die poetische und eingängige, an uralte mündliche Erzähltraditionen gemahnende Sprache, mit der sie den Leser im besten Sinn „an die Hand nimmt“. Um einen kleinen Eindruck davon zu vermitteln, hier der allererste Satz: „Die Vorfahren der Libellen, die über das Wasser jagten, stammten aus Nordindien und hatten sich von einem milden frühmorgendlichen Wind, dem Matlai – ein Vorbote des Monsuns – über den riesigen Ozean im Süden tragen lassen.“ Etwas von diesem Libellenflug haftet der ausufernden Handlung von der ersten bis zur letzten Zeile an. Die Hauptfigur ist ein auf der Insel beheimatetes Mädchen namens Ayaana, das zu Beginn sieben Jahre alt ist und dessen Lebensweg die Autorin über gut zwanzig Jahre folgt. Der sinnbildliche zweite „Held“ des Buches ist das Meer, das die kindliche Ayaana in Bann schlägt – nicht nur der Libellen und der Ahnung von Welt und Weite wegen, sondern auch in Gestalt des dahinter vermuteten ungekannten Vaters, für den sie in dem alten Seemann Muhidin eine Ersatzfigur findet. Nicht zuletzt verweist die Autorin mit der Geschichte ihrer Heldin auf ein in Europa bis heute weitgehend unbekanntes Kapitel der Globalisierung und Moderne: Denn vor den europäischen Seefahrern war es im 15. Jahrhundert der chinesische Admiral Zheng He, der an der Ostküste Afrikas landete und nach einem Schiffbruch vor eben jener Insel Pate strandete. Mit DNA-Tests lässt sich heute belegen, dass ein Teil der Einwohner der Insel von den damals nach Afrika gelangten chinesischen Seefahrern abstammt – so auch die Romanheldin, die im Verlauf des Buches mit einem Stipendium der chinesischen Regierung zum Studium nach Xiamen aufbricht und von dort in weitere Gegenden Chinas und des Orients gelangt. Dass sie nach einer abenteuerlichen Coming of Age-Geschichte zuletzt auf ihre Heimatinsel zurückkehrt, um dort nach altem Ritual zu heiraten, wird manche postmodernen LeserIn vielleicht enttäuschen – aber selbst auf die Gefahr hin, dass ich mit meinem Bekenntnis ein wenig aus der Zeit gefallen wirke: Ich habe es der kenianischen Autorin und ihrer Heldin nach 600 „duftenden“ Romanseiten geglaubt.